Im Osten was Neues

Von einem, der aus dem Westen auszog, um woanders er selbst zu werden.

Ostdeutschland: Zeichnung von einem Mann vor untergehender Sonne

«Kinder, was ist Sozialismus schön!» So kicherte mein damaliger Freund und späterer Exmann zusammen mit seinen Ost-Berliner Freunden, wenn diese zu Besuch waren bei uns draußen im Brandenburgischen und wir Streuselkuchen aßen und Kaffee dazu tranken. Das war noch in den Neunziger Jahren, und ich, der einzige Wessi, verstand weder, warum die Freunde so seltsam versonnen-melancholisch darüber kicherten, noch, warum man das Jacobs-Filterkaffeepulver einfach mit heißem Wasser aufbrühte. Den Sozialismus gab es doch gar nicht mehr, Filtertüten aber ja durchaus.

Ich hatte noch so viel zu lernen

Nein, es ist nicht angebracht, die Kohlen aus dem Keller in einer Benneton-Plastiktüte in den vierten Stock einer Ost-Berliner Mietskaserne zu tragen. Vielmehr ist es einfach nur grotesk-komisch und Klischees über Wessis auf die Spitze treibend. Ganz egal, ob es einfach nur die einzige und vor allem tragfähige Tüte im gerade neu gegründeten, studentischen Haushalt war. Vorurteile hat man ja meist gegenseitig. Aber es stimmte schon: Wie man einen Kohlenofen bedient, davon hatte ich keine Ahnung, als ich 1996 aus dem tiefsten Südwesten in Nordostdeutschland ankam und mir dort alles exotischer vorkam als Bangkok. Aber genau dort wollte ich ja hin: neue Welten erkunden.

Die «Donauwelle» heißt «Schneewittchenschnitte», und den «Havarienotdienst» ruft man nicht, wenn das Kraftwerk nebenan Kernschmelze hat oder ein Tanker im Hausflur gestrandet ist, sondern wenn irgendwas mit den sanitären Anlagen aus dem Ruder gelaufen ist. Rohrbruch, Heizungsdefekt. Solche Sachen.

Schwer war am Anfang auch das mit dem Nacktbaden, war ich doch aus meiner katholisch-prüden Heimat an bizarre Strandrituale wie das «Sich in ein Handtuch gewickelt die Badekleidung ausziehen und trockenrubbeln ohne dasss man was sieht»-Ballett gewöhnt. Und dazu 100 Prozent blickdichte Einzelduschkabinnen in öffentlichen Schwimmbädern.

Doch dann auf einmal war es ganz leicht – der Osten hat mir die Freiheit geschenkt.

Ich war in jeder Hinsicht einfach nur neugierig, wissbegierig. Mir schmeckte auch das Essen in den Gaststätten, das andere Wessis häufig zum Anlass nahmen, um arrogant die Nase zu rümpfen. Typisch neureich – gerade erst hatte man auch in Wuppertal gelernt, wie man eine Kiwi löffelt und dass man Parmesan auch frisch reiben kann anstatt vertrockneten, käsefüßigen aus der Tüte zu nehmen - belächelte man das «Steak au four», den Königstiger der ostdeutschen Cuisine (ein mit Würzfleisch überbackenes Schweinesteak). Und natürlich das angeblich so spießige Würzfleisch, das sich in den Siebzigern (und darüber hinaus) als «Ragout fin» auch in Frankfurt am Main großer Beliebtheit erfreut hatte. Überhaupt: Schrankwände, Mief und Kleinbürgerlichkeit schien es ja nur in der DDR gegeben zu haben, wenn man den Wessis seinerzeit geglaubt hätte. Haben ja aber auch viele seinerzeit den Wessis alles geglaubt.

Vieles von dem, was mir so fremd erschien, konnte ich mir im Nachhinein erklären, vieles habe ich mir auch erklären lassen. In anderen Dingen war ich hilfloser, hatte ich doch die DDR nie erlebt, als es sie noch gab. Wie war es, dort zu leben und aufgewachsen zu sein? Ich kannte bloß die Fortsetzung, Teil II: nach der Wende.

Einmal war ich mit meinem Ex im Kino, «Die Legende von Paul und Paula» anschauen, für ihn das erste Mal nach 1989. Danach standen wir unter den Kolonnaden an der Berliner Museumsinsel und blickten auf die Spree, ihm kamen die Tränen. Er trauerte um das, was mal gewesen war. Um sein Land, das es nicht mehr gab. Und ich zeigte in meiner Hilflosigkeit auf den Fernsehturm und die angrenzenden Hochhäuser, die Achtgeschosser und Zwölfgeschosser und sagte:

Aber sei doch nicht traurig, ihr seid doch alle noch da.

Das ist nun schon sehr lange her. An der Ostsee gibt es nun Textil-, Hunde- und Familienstrände – und die Kohlenöfen Ost-Berlins sind größtenteils abgebaut. So wie es die DDR nicht mehr gibt, gibt es auch meine alte Heimat, die Bundesrepublik der Ära Kohl, nicht mehr.

Mein Coming-out aber hatte ich in den «neuen Bundesländern». Dort, in Ost-Berlin, Brandenburg und an der Küste Mecklenburg- Vorpommerns wurde aus einem jungem Wessi allmählich ein Erwachsener, der lernte, sich noch viel mehr Freiheiten zu nehmen als nur die, nackt in der Ostsee zu baden. Mitten in den Verwerfungen, Umbrüchen und Umwälzungen der ehemaligen DDR durfte und darf ich werden – ich bin immer noch froh, damals rübergemacht zu haben.


Martin Reichert, Jahrgang 1973, geboren in Wittlich, lebt als Journalist und Autor in Berlin. In zahlreichen Kolumnen in der taz («Landmänner») und Büchern («Landlust») berichtete er von seinem Leben als Wessi, der mit einem Ossi zusammen war. Und das auch noch in Brandenburg.

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